Das Reinheitsgebot der deutschen Rassegeflügelzucht in unserer Zeit

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Züchtet echt und züchtet rein!

Das ‚Reinheitsgebot‘ der deutschen Rassegeflügelzucht in unserer Zeit

Dr. Reinhard Grafe, Halberstadt

Wohl jeder Rassegeflügelzüchter kennt diesen Leitspruch Robert Oettels aus Görlitz/Sa. Doch welche Bedeutung hat er für uns heute? Um dies zu erkennen, müssen wir uns Klarheit darüber verschaffen, in welcher Situation Oettel diese Aufforderung formulierte und welche Absicht er damit verfolgte.

Die Rassegeflügelzucht vor und zur Zeit Oettels

Bis etwa 1800 scheinen Rassetauben in Deutschland lange Zeit relativ unverändert gezüchtet worden zu sein. Die typischen Taubenfarben sowie viele typische Scheckungsmuster für Farbentauben sind bereits im Vogelbuch von Geßner aufgeführt und einige davon mit eindrucksvollen farbigen Miniaturbildern im Vogelband eines Lexikons von Markus zum Lamm (beide um 1600) veranschaulicht. Ähnliche Haustauben sind auf persischen Miniaturen (der Schulen in Herat und Täbris) dargestellt, die noch 100 bis 200 Jahre älter sind. Vielfältige züchterische Aktivitäten deutscher Farbentaubenzüchter dokumentiert um 1800 bereits der Thüringer Bechstein in seinem Vogelbuch. Am Ende des 19. Jh. Wird dann gar ein Erscheinen vielfältiger neuer Formen erwähnt. Levi zitiert in seinem bekannten Taubenbuch einen deutschen Züchter aus dem Jahre 1874: ‚Ich halte in meinem Schlag ein Dutzend Tauben der folgenden Rassen: Hyazinth-tauben, Schwalben und Schnippen verschiedener Farbenschläge, dazu Gimpeltauben. Und zwar Täuber von zwei der genannten Rassen und Täubinnen der anderen beiden, so dass ich sicher bin, dass nur Kreuzungen möglich sind. Und ich erhalte mehr neue Varianten als ich Namen dafür finden kann.‘ Neben derartigen Kreuzungen führten bereits in damaliger Zeit Importe zu einer stark zunehmenden Rassenvielfalt. Andererseits organisierten sich im letzten Drittel des 19. Jh., zunächst vornehmlich in Sachsen, die Züchter in Vereinen. Erste Schauen wurden durchgeführt, Standards wurden formuliert. Ihre Grundlage sind die seit langen Zeiten (möglicherweise zusammen mit bereits entwickelten Rassetauben aus dem Orient übernommenen) mehr oder weniger verbindlichen ästhetischen Betrachtungen von Rassetaubenidealisten.

In dieser Zeit erscheint die Forderung Robert Oettels nach Reinzucht überaus sinnvoll. Sie ist zuerst die Grundlage der organisierten Rassegeflügelzucht. Ihre Orientierung sind die Standards. Ausstellungen kontrollieren deren Einhaltung. In zweiter Instanz wirkt Oettels Aufruf auch der Zersplitterung der züchterischen Aktivitäten entgegen. Die weitgehende Beachtung dieses Reinzuchtgebotes unter den organisierten Rassegeflügelzüchtern war eine maßgebliche Rahmenbedingung zur Erreichung eines Hochstandes der deutschen Rassegeflügelzucht. Dennoch sollten wir nicht verkennen, wie vitalisierend auch bereits in dieser Zeit – oft wohl geheim gehaltene – Kreuzungen in den ‚Reinzuchten‘ gewirkt haben dürften. Obwohl dieses Reinzuchtgebot nicht abgeschafft worden ist, wirkt es gegenwärtig offenbar nur noch eingeschränkt. Und dafür gibt es treffliche Gründe.

Mit der Mendel’schen Genetik änderten sich die Voraussetzungen für die Zucht

Als Oettel am Ende des 19. Jh. das Reinzuchtgebot formulierte, gab es wohl keinen Rassegeflügelzüchter, dem die Entdeckung einer Vererbung von Merkmalsanlagen durch Gregor Mendel bekannt war. Das sollte sich jedoch bald ändern. Sogleich nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Erbregeln im Jahre 1900 beginnt eine Epoche der genetischen Forschung in Europa und maßgeblich auch in Deutschland, in der zunächst insbesondere für die Rassegeflügelzucht bedeutsame Entdeckungen gemacht werden. Der Nachweis der Gültigkeit der von Mendel an Erbsen demonstrierten Erbregeln auch bei Tieren ist zuerst zu nennen. Er erfolgt bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. In den folgenden Jahrzehnten wird die Mendel’sche Genetik (auch als klassische Genetik bezeichnet) insbesondere durch die Entdeckung der Chromosomen als Träger der Gene weiterentwickelt. Diese Entdeckung erklärt das scheinbare Abweichen von den Mendel’schen Regeln in Fällen von gekoppelten Genen und an das Geschlechtschromosom gekoppelter Vererbung. Es werden anhand zahlreicher bei Hausgeflügel und –tauben vorhandener Rasse- und Farbenschlag-Varianten die Erbgänge qualitativer Merkmale aufgedeckt, wie insbesondere der Gefiederfarben und –strukturen sowie anatomischer Besonderheiten. In den 30er Jahren sind diesbezügliche Kenntnisse bereits ein Muss für Preisrichter in Deutschland. (Im Vergleich damit ist der heutige Stand ein Rückgang!) Typisch für diese Zeit ist die Verflechtung wissenschaftlicher und rasse- bzw. wirtschaftsgeflügelzüchterischer Aktivitäten. So ist z.B. der englische Genetiker Punett der Erzüchter der ersten kennfarbigen Hühner. Er hat aber auch eine didaktisch unübertroffene und einprägsame schematische Darstellung der Mendel’schen Vererbungsvorgänge eingeführt, das nach ihm benannte ‚Punett’sche Quadrat‘. Etwa um 1950 war weitgehend der noch heute gültige wissenschaftliche Kenntnisstand über die Vererbung rassenspezifischen Merkmale der Tauben erreicht, Jahrzehnte später auch für die Züchter umfassend aufbereitet und in deutscher Sprache verfügbar. Wissenschaftliche Fortschritte führen zur differenzierten Betrachtung der Reinzucht Reinzucht war und ist d i e Methode der Erhaltungszucht nach festgelegten Standards. Vorschusslorbeeren hat die Reinzucht allerdings eine Zeit lang unverdient erhalten: Reinzucht bietet keine Gewähr für Echtheit im Sinne von Reinerbigkeit, da rezessive Anlagen über viele Generationen erhalten bleiben können. Das erfordert eine die Reinzucht begleitende Selektion nach den definierten Merkmalen des Farbenschlages bzw. der Rasse. Reinzucht ist also nicht einfache Erhaltungszucht, sondern vielmehr Selektionszucht. Reinzucht garantiert nicht die Leistungsfähigkeit. Diese wird im Gegenteil in der Wirtschaftsgeflügelzucht durch eine Kreuzungszucht erreicht, die den Hybrideffekt systematisch nutzt. Ebenso wenig garantiert sie Vitalität. Diese ist bei zu enger Inzucht in kleinen Populationen sogar gefährdet. Reinzucht verhindert nicht einmal eine ständige Veränderung von Merkmalen. Im ungünstigsten Fall lässt sie gar eine Maximierung der Merkmalsausprägung zu. Zu solcher kann es dann kommen, wenn ein (meist von mehreren Genen beeinflusstes) Merkmal im Standard nicht klar definiert ist (also mit Ober- und Untergrenzen der Ausprägung). Dann nämlich führt der Wunsch einer Merkmalsänderung in eine bestimmte Richtung ohne genaue Zielfestlegung, etwa ‚möglichst lang.. kurz.. breit.. schlank.. dunkel.. hell usw.‘ nicht selten (wenngleich wohl oft unbewusst) zu einem stetigen Trend der gerichteten Veränderung durch Selektion über mehrere Generationen. Während also einerseits Reinzucht kein ‚Allheilmittel‘ ist, ist andererseits ein ‚Schreckensbild Kreuzungszucht‘ keineswegs noch zeitgemäß. Und dies nicht nur aufgrund genetischer Erkenntnisse, sondern auch angesichts vieler gelungener Neuzüchtungen insbesondere der letzten fünf Jahrzehnte. Das Reinzuchtgebot verkennt darüber hinaus Wesentliches für das Bestehen aller Dinge im Zeitenlauf - den nötigen Wandel. Für den ist Neues einfach notwendig. Neues entstand in allen Zeiten vor allem durch Kreuzungen Und was besonders wichtig ist: Das Neue und Besondere zieht besonders junge Menschen als Garanten für die Zukunft unseres Hobby’s an. Durch Kreuzungen werden Erbanlagen (Mutationen) neu kombiniert (3. Mendel-Regel). Die seltenen Änderungen der Erbanlagen (Mutationen) allein führen nur in einigen Fällen direkt zu attraktiven neuen Varianten. Kombinationen mit weiteren Mutationen lassen aus einer überschaubaren Mutantenzahl die Legion von Rassetaubenvarianten entstehen, von denen sich die attraktivsten dauerhaft etablieren. Die ältesten mir bekannten Hinweise auf eine vom Züchter bewusst vorgenommene Verpaarung der Tauben stammen aus dem Bericht über die Tauben des indischen Großmoguls Akbar aus dem Jahr 1590. Erkenntnisse der Mendel’schen Genetik ersetzten Erfahrungswissen Wir sehen also, dass wir Reinzucht u n d Kreuzungszucht nutzen müssen. Dem Wissensstand entsprechende Zuchtempfehlungen ersetzten das Reinzuchtgebot: 1.Reinzuchtempfehlung: Sie erhält die Reinzuchtidee. Reinzucht ist unbedingt zu empfehlen, wenn Variabilität zur Verbesserung der Zucht innerhalb der Tierpopulation der betreffenden Variante vorhanden ist (Farbenschlag oder Rasse). Reinzucht erfordert einen gewissen Umfang, um zu enge Inzucht nicht zur Gefahr werden zu lassen. Zahlreiche Zuchten und reger Tieraustausch wirken entgegen. Reinzucht kann jeder betreiben. 2.Kreuzungsempfehlungen: Sie dienen der effektiven Nutzung notwendiger und sinnvoller Kreuzungen. Unerlässlich ist Kreuzungszucht, wenn allein zielführend, wie im Falle einer Neuzüchtung. Kreuzungszucht ist bereits dann sinnvoll, wenn schneller als Reinzucht zum Ziel führend, wie z.B. Farbschlagkreuzung innerhalb einer Rasse. Sogar das Kreuzen zum ‚Probieren‘ kann eine sinnvolle Möglichkeit sein, wenn objektiv kein entsprechendes genetisches Wissen verfügbar ist. Dabei kann von der Annahme genetischer Ähnlichkeit bei gegebener äußerlicher (phänotypischer) Ähnlichkeit ausgegangen werden. Allerdings trifft diese Annahme nicht immer zu. Diese Unsicherheit macht eine Abschätzung des Zuchtaufwandes unmöglich. Kreuzungszucht kann als effektive Zuchtmethode nur als bewusste Zucht auf der Grundlage entsprechenden Wissens (der Erbregeln und Erbfaktoren) empfohlen werden. Sie erfordert einen größeren Zuchtumfang als Reinzucht. Diese Empfehlungen betreffen ausschließlich die Zuchttechnik. Um in unserer Zeit das Neuzüchtungsgeschehen zu steuern, reicht kein Reinzuchtgebot aus. Vielmehr werden Überlegungen über den Sinn von Neuzüchtungen notwendig, deren Anwendung ggf. auch die Sinnlosigkeit mancher Neuzüchtung deutlich werden ließe.

Das Neuzüchtungsgeschehen zu beeinflussen, erfordert komplexes Herangehen

Über Sinn oder Unsinn von Züchtungen wird heute bereits aus ethischer und naturwissenschaftlicher (biologischer) Sicht durch die Gesellschaft mitentschieden. Das ist für uns Züchter manchmal nur schwer zu ertragen, oft aber nicht einfach zurückzuweisen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um biologische Funktionalität geht, die uns als Tierfreunden ganz und gar nicht gleichgültig sein kann und darf. Die Einrichtung eines Wissenschaftlichen Geflügelhofes durch den BDRG ist ein höchst sinnvoller Beitrag, den die organisierten Rassegeflügelzüchter selbst leisten.

Und durch eine ästhetische Sicht ist die Zucht von Rassegeflügel wohl von Anbeginn beeinflusst bzw. gar begründet worden. Jedenfalls gab es lange Zeit nur mündliche Vereinbarungen, die aus ästhetischen Betrachtungen resultierten (über Symmetrie und Regelmäßigkeit der Scheckungsmuster, deutliche Formen mit klaren Linien, harmonischen Proportionen, klare Grenzen von Mustern wie Zeichnungen und optisch reine Farben). Aus denen wurden dann erst seit Oettels Zeiten unsere heutigen gedruckten und bebilderten Standards. Die Führung und Weiterentwicklung dieser Standards bezieht in unserer Zeit ästhetische Überlegungen jedoch offenbar nicht oder nur in ungenügendem Maße ein, wie ‚Entgleisungen‘ deutlich belegen. Allein die bewusste Rückbesinnung auf eine naturwissenschaftliche (biologische) sowie ethische Sichtweise und wohl insbesondere die ästhetische Betrachtung erscheinen aber geeignet, um den Trend der sorglos fortschreitenden Zersplitterung in sachlich sinnvoller Weise entgegenzuwirken.