Inzucht - Ja oder Nein
An dieser Stelle wird ein Beitrag von Dr. Reinhard Grafe eingestellt . . .
Inzucht – Ja oder Nein?
von Dr. Reinhard Grafe
Einleitend und zur Erinnerung eine kurze Klärung des Begriffes: Inzucht wird gewissermaßen als Synonym für Verwandtschaftszucht gebraucht. Die in der deutschen Rassegeflügelzucht seit Robert Oettel bevorzugt betriebene Reinzucht ist eine Verwandtschaftszucht. Sie ist als Gegensatz zu Fremdzucht, Kreuzungszucht, zu verstehen. Dabei haben aus der Sicht einer Rasse bzw. einer Rassenvariante (Zeichnungs- oder Farbenschlag) beide Zuchtverfahren ihre Berechtigung:
Durch Fremdzucht entstehen neue Varianten; durch Inzucht werden sie züchterisch gefestigt.
Bei der Inzucht kann die verwandtschaftliche Nähe der Paarungspartner unterschiedlich groß sein. Die Zucht mit nahe verwandten Tieren wird als Inzestzucht bezeichnet. Gegen Inzestzucht gibt es gelegentlich wohl auch unter Rassegeflügelzüchtern Vorbehalte. Sie sind darin begründet, dass Inzest die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen der gewünschten ebenso wie die des Auf-tretens unerwünschter Merkmale deutlicher erhöht als weniger strenge Inzuchtverfahren. Schematisch betriebene Inzuchtverfahren sind z.B. die verschiedenen Linienzuchtverfahren. Sie werden vor allem in der Nutzgeflügelzucht, aber auch in umfangreicheren Rassegeflügelzuchten, z. B. in Gemeinschaftszuchten, angewendet.
Die Situation in der Schönheitszucht von Haustieren ist generell eine andere als die der Nutztierzucht: Die in Betracht kommenden Merkmale sind in der Regel einfacher genetisch gesteuert und oft dazu äußerlich direkt verfolgbar. Die An-zahl der Zuchttiere ist geringer, so dass diese oft miteinander verwandt sind. Bei wenig gezüchteten Varianten kann sogar die gesamte Zuchttierpopulation mit-einander verwandt sein.
Das führt dazu, dass in der Rassegeflügelzucht eine von Fall zu Fall unterschiedliche Form einer Verwandtschaftszucht betrieben wird. Inzucht ist hier also keine Frage der Wahl, sondern nahezu der Normalfall. Dabei setzen sich automatisch jene Tiere durch, die neben guten Exterieur-werten, also äußeren Merkmalen, deren Güte am Standard gemessen wird, auch gute Zuchtqualitäten besitzen. Harmonierende Züchtergemeinschaften und reger Zuchttieraustausch fördern dieses. Ergebnis sind die Anreicherung gewünschter Anlagen im allgemeinen und im speziellen möglichst viele Nachfahren mit den Merkmalen derjenigen erfolgreichen Zucht- und Ausstellungstiere, auf die ingezüchtet wird.
In der Nutztierzucht ist ein Vergleichsmaß für die betriebene Inzucht erfor-derlich, der sogenannte Inzuchtkoeffizient. Was dieser bedeutet, sei ab-schließend kurz angedeutet:
Betrachtet man die Abstammungsdaten von Inzuchttieren, so weisen sie in der Ahnenreihe väterlicherseits u n d mütter-licherseits mindestens ein identisches Tier auf – eben jenes Tier, auf das ingezüchtet wurde.
Natürlich kann auch auf mehrere Tiere ingezüchtet worden sein, z. B. dann, wenn Vollgeschwister (mit identischen Elternpaaren) in der Ahnenreihe auftauchen. Die Anzahl der Ahnen, auf die ingezüchtet wurde, einerseits sowie andererseits deren Abstand zum aktuell betrachteten Tier (gemessen durch die Anzahl der dazwischen liegenden Generationen) bestimmen das Maß der Inzucht, eben den Inzuchtkoeffizienten. Dieser ist für Geschwister identisch. Deren züchterischer Wert kann erfahrungsgemäß aber durchaus sehr ungleich sein. Daraus folgt der geringe Sinn eines Inzuchtkoeffizienten in der Schönheitszucht.